Wir gebieten Frieden, weil dies bitter nötig ist

Volkstrauertag, Gedenkstunde für den Frieden
Rede von Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestages
Greven, 18. November 2018

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1. 

Der Volkstrauertag in Deutschland hat eine fast 100-jährige Geschichte, eine sehr widersprüchliche.
Mal wurde verheerender Kriege gedacht, begonnen nach dem 1. Weltkrieg, um Frieden zu fordern.
Mal wurden Soldaten gefeiert, die ihr Leben heldenhaft für das deutsche Vaterland eingesetzt hätten.
 
Sie haben in der Bitte an mich, zu Ihnen zu sprechen, den Volkstrauertag ein „Gedenken für den Frieden“ genannt. Dafür danke ich Ihnen.
 
Sagen Sie bitte nicht, dass sei eine Selbstverständlichkeit.
Nein, das ist es nicht.
 
Schon gar nicht in einer Zeit, in der Repräsentanten einer deutschen Partei, die sich „Alternative“ nennt,
 
•  eine Wende in der Erinnerungskultur fordern,
•  die Leistungen der Wehrmacht in zwei Weltkriegen würdigen
•  und bedauern, dass über Hitler nur negativ gesprochen wird.
 
Zur Erinnerung: Allein der Holocaust, der systematische Mord von Jüdinnen und Juden Europas, kostete sechs Millionen Menschen das Leben.
Würde man jeder und jedem von ihnen auch nur eine Schweigeminute widmen, so herrschte elf Jahre lang Stille, Totenstille.
 
Nein, auch ich hätte mir vor fünf oder zehn Jahren nicht vorstellen können, dass Ewiggestrigen eine solche Auferstehung möglich sein könnte, bis in die Mitte der Gesellschaft und in den Bundestag hinein.
 
...
 
Wir gebieten am Volkstrauertag daher nicht Frieden, weil es üblich ist, sondern weil dies nötig ist, immer wieder und überall.

2. 

In diesem Zusammenhang verweise ich Sie auf eine Rede.
Die einen werden sich erinnern, anderen sei sie empfohlen.
 
1985 sprach Richard von Weizsäcker im Bundestag über den 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und mithin dem Ende des 2. Weltkriegs in Europa.
 
Richard von Weizsäcker war damit der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, der dieses Datum „Tag der Befreiung vom Faschismus“ nannte. Das war überfällig.
 
Und er sagte damals noch viel mehr.
Es war eine Rede, die den äußeren Frieden ebenso meinte, wie den inneren. Ich finde sie hoch aktuell.
 
Zitat:
 
„Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren.
 
Die Bitte an die jungen Menschen lautet:
Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
 
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben.
 
Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.“
 
Soweit auszugsweise Richard von Weizsäcker damals.
 
Die aktuelle Tendenz ist eine andere.
Es wird sehr wohl Hass geschürt.
Das Gegeneinander feiert Urständ.
Und Vorurteile werden en masse bedient.
 
Antisemitismus entlädt sich immer ungehemmter. Muslime gelten a priori als Terroristen. Und Arme werden gegen noch Ärmere aufgehetzt.
 
All das bedroht den inneren und äußeren Frieden.
Die Botschaft von Richard von Weizsäcker gilt fort.
Wir müssen uns für sie engagieren, miteinander.

3. 

Empfange ich im Bundestag Besucher und reicht die Zeit, dann gehen wir durch die Parlamentsgebäude mit Halt bei einigen Kunstwerken.
Davon gibt es viele, so viele, dass sie einen Bildband füllen.
 
Vor allem zwei gehören bei mir zum Standardprogramm.
Beide sind im Reichstagsgebäude. Und beide waren höchst umstritten, insbesondere bei der CDU/CSU.
 
Das eine ist der Andachtsraum von Günther Uecker.
Er bietet Raum und die dazugehörigen Utensilien für alle relevanten Religionen, für Christen, für Juden, für Muslime, auch für Hindus.
Unions-Politiker forderten ein dominierendes Kreuz, schließlich sei man hier im christlichen Abendland. Uecker blieb standhaft.
 
Das zweite Kunstwerk ist im Innenhof des Gebäudes.
Es ist von Hans Haake. Er schuf einen Schriftzug „Der Bevölkerung“, in bewusstem Kontrast zu der Giebelinschrift „Dem deutschen Volke“.
Die Buchstaben werden umgrünt.
Wer wollte, konnte aus seinem Wahlkreis ein Säckchen Erde mitbringen. Und was diese barg und aus ihr erwächst, soll gedeihen, unbeschnitten, unbegradigt.
 
Uecker plädiert für einen gleichberechtigten Dialog, interreligiös. Haake mahnt uns Abgeordnete, für alle Bürgerinnen und Bürger da zu sein, multikulturell, und nicht nur für Deutschgermanen.
 
Lange hatte ich beide Werke vor allem als Erinnerung an die mörderische Zeit des Faschismus interpretiert. Aber spätestens seit diese von einem bekannten AfD-Politiker als „Vogelschiss“ verharmlost wurde, weiß ich: Ueckers und Haakes Mahnungen sind brandaktuell.
 
Frieden und Demokratie werden nicht einmal geschaffen, sie herzustellen, zu verteidigen, zu leben sind eine sich beständig wiederholende Aufgabe. Das geht uns alle an.

4. 

Wir gedenken heute vieler Kriegsopfer. Wissen wir überhaupt, wie viele Kriege derzeit weltweit toben? Wie hoch die Zahl der aktuellen Opfer ist? Wer ist überhaupt Kriegsopfer? Die Toten oder auch Flüchtlinge?
 
Wir müssen am „Volkstrauertag“ auch über die deutsche Flüchtlings- und Asylpolitik reden. Über Rüstungsexporte. Über Wirtschaftspolitik. Über Banken-Macht. Und überhaupt über übermächtige Monopole.
 
Das schaffen wir heute nicht. Aber lasst es uns bitte nicht vergessen!
Denn sonst bleibt der Volkstrauertag eine halbe Veranstaltung.
 
Wir gebieten Frieden, weil dies bitter nötig ist.
 
 

 

 

18.11.2018
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