Wir stehen an einem Scheideweg

Gedenkveranstaltung für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma
Rede von Petra Pau, Bundestagsvizepräsidentin
Berlin, 2. August 2016

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1. 

Heute Nachmittag wurde in Auschwitz-Birkenau der von den Nazis ermordeten Sinti & Roma gedacht. Derselbe Anlass hat uns hier in Berlin am „Mahnmal für die ermordeten Sinti & Roma“ zusammengeführt.
 
Ein Gedenken, dem ich aus aktuellen Anlässen breite Aufmerksamkeit wünsche. Aber man muss kein Prophet sein: Anderen Themen wird mehr Öffentlichkeit zuteilwerden.
 
Spätestens ab Freitag, wenn die Olympischen Spiele 2016 beginnen. Deshalb werde ich 80 Jahre zurückblicken, auf die Olympischen Spiele 1936, und mit einem Zeitzeugen und Betroffenen beginnen:
 
(Zitiert aus „Das Brennglas“, S. 18/19, von: Wir wurden „eines Morgens“ ... bis .. „wir wurden aber zwangsweise dort abgestellt.“:)
 
Wer die Erinnerungen von Otto Rosenberg kennt, weiß, warum sie den Titel „Das Brennglas“ tragen. Wer nicht, dem empfehle ich sein Buch.

2. 

Im Text ist von der „Olympiade“ 1936 die Rede, in Hitler-Deutschland, und von einem „Rastplatz“ in Marzahn, in meinem Heimat-Bezirk.
 
Berlin als olympischer Austragungsort sollte damals sauber, arisch und vorzeigbar sein, ergo Zigeuner-frei. Deshalb wurden diese auf dem sogenannten Rastplatz interniert, bis zu 900, ehe sie in die faschistischen Todeslager deportiert wurden, zum Völkermord an Sinti & Roma.
 
In seinem Buch wirft Otto Rosenberg übrigens zwei Fragen auf, die ihn offenbar noch Jahrzehnte später umtrieben.
 
Nahezu seine gesamte damalige Familie wurde von den Nazis umgebracht. Er überlebte das Grauen. „Warum gerade ich?“ Wir kennen diese Frage auch von Jüdinnen und Juden, die den Holocaust überstanden.
 
„Wie konnten scheinbar normale Deutsche binnen kurzer Zeit so hasserfüllt und brutal werden?/ Er hatte es in zahlreichen Nazi-Lagern erlitten. Das war seine zweite Frage. Ja, wie konnte das geschehen?

3. 

Damit wären wir in der Gegenwart. Der Hass gegen alle, die vermeintlich anders als vermeintlich deutsch sind, nimmt rasant zu. Ebenso die Gewalt gegen Migranten, Geflüchtete, Asylbewerber, Anderslebende.
 
Vier Opfer beim jüngsten Attentat in München waren übrigens Sinti und Roma, aus Deutschland und aus dem Kosovo. Der Mörder war Rassist und rechtsextrem. Gab es dazu klare Worte? Wohl kaum!
 
Deshalb greife ich ein aktuelles Zitat auf. Es wird Berlins Innensenator Frank Henkel zugeschrieben. Demnach beklagte der CDU-Politiker, „völlig verrohte Personen“, die „Deutschland importiert“ habe.
 
Denn die völlig verrohten Personen sind zumeist Einheimische,
die hier nicht importiert, sondern sozialisiert wurden.
Dieses Problem ist deutsch und heißt Rassismus, wieder einmal.

4. 

Doch viele Politiker und Medien ignorieren das und leisten damit Tätern Vorschub. Auch dadurch: Sinti & Roma als solche werden in zahlreichen Ländern verfolgt und bedroht, allemal in osteuropäischen Staaten.
 
Wie zum Hohn werden diese dennoch politisch zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Oder sie sind es per se, wie Ungarn, weil sie nun mal Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind.
 
So werden allgemein gültige Menschenrechte entsorgt. Längst gibt es wieder (oder immer noch) Menschen 1., 2. oder keiner Klasse. Das hat mit den viel beschworenen westlichen Werten nichts zu tun.

5. 

Nationalistische und rassistische Tendenzen sind auf dem Vormarsch,
in Europa, in der Europäischen Union, in Deutschland.
Wir stehen an einem Scheideweg.
 
Zugleich engagieren sich hierzulande geschätzt sieben bis neun Millionen Bürgerinnen und Bürger praktisch und selbstlos täglich für Asylbewerber, für Geflüchtete, für Menschen in Not.
 
Das ist die größte Bürgerrechts- und Sozialbewegung der jüngsten Jahrzehnte. Und das in einem Land, in dem „Gutmensch“ als Unwort gekürt wurde. Sie alle verdienen unseren Respekt.

6. 

Zugleich kenne ich Holocaust-Überlebende, die sich aktuell mehr denn je an ihre Erfahrungen erinnern, zum Beispiel Esther Bejarano. Ich kann das als Nachgeborene nur wahrnehmen, bin aber höchst alarmiert.
 
Und deshalb rufe ich abschießend zwei Lehren in Erinnerung:
 
Die erste:
Der bekannte Schriftsteller Erich Kästner hatte 1958 rückblickend auf die Nazi-Zeit gemahnt:
 
„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf ...“
 
Die zweite Lehre:
Die Faschisten kamen 1933 nicht an die Macht, weil die NSDAP so stark war, sondern weil die Demokraten zu zerstritten waren.
 
Beide Lehren mahnen!
Drängend, finde ich!
 

 

 

2.8.2016
www.petra-pau.de

 

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