Das wahre Leben ist immer widersprüchlicher...

Festrede von Petra Pau zum Jahresabschluss des Touro-Colleg Berlin, 2. Juli 2007

1. 

Sie vollbringen heute einen besonderen Abschnitt Ihres Lebens und damit einen weiteren Schritt ins Leben. Ich freue mich, dass ich Sie dabei begleiten darf. Und ich danke ausdrücklich der Familie Nachama, dass sie mir die Würde und Bürde angetragen hat, zu Ihnen zu sprechen.
Denn so ist Ihr Feiertag auch mein Feiertag. Ich nehme ihn gerne an. Dafür habe ich mich auch einer Kultur genährt, die in den USA typisch ist, nicht aber hierzulande. Sie sehen es. Ich trage einen Talar und eine entsprechende Kopf-Bekleidung. Sie erleben also eine Welt-Premiere.

2. 

Natürlich habe ich mich erinnert: Wie war das damals, als ich meinen ersten Studien-Abschluss geschafft hatte? Es gab Offizielles. Es gab viele Reden. Unsere Eltern waren da. Wir waren stolz. Danach feierten wir. Und soweit ich mich erinnere, tranken wir wohl auch ein Glas zu viel.
Zwei Tage später erhielt ich sogar noch eine staatliche Auszeichnung für gute Studien-Leistungen. Doch dann kam das wahre Leben. Und aus diesem Erleben rührt meine erste Botschaft. Ob Studium oder Parlament: Das wahre Leben ist immer widersprüchlicher als die reine Lehre.

3. 

Warum erzähle ich das? Ich habe damals studiert, weil ich Gutes und Besseres wollte. Das Land, in dem ich aufwuchs, die DDR, zerfiel 1989/90. Es war ökonomisch zu schwach und es hatte demokratische Defizite. Diese Lehre hat mir das Leben erteilt, nicht die Schule.
Ich bin übrigens aus Erfahrung meiner DDR-Zeit eine überzeugte Demokratin geworden. Und ich bin aus Erfahrungen meiner 17 Jahre BRD-Zeit eine überzeugte Sozialistin geblieben. Vielleicht bin ich das auch erst geworden. Aber das ist jetzt eine zu weit gehende Geschichte.

4. 

Zur Wende 1989/90 gab es ein geflügeltes Wort. Gorbatschow hatte es geprägt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ Es fiel mir jüngst wieder ein, als sich der G8-Gipfel angesichts der drohenden Klima-Katastrophe darauf einigte, man wolle sie künftig „in Erwähnung ziehen“.
Es gibt Entscheidungen, die vertragen kein „zu spät“. Auch das gehört zur Globalisierung. Sie treffen und betreffen alle Menschen, egal wo sie leben und egal woran sie glauben. Ich zähle die atomare Abrüstung dazu, den Klimaschutz, den Kampf für mehr Bildung und gegen weltweite Armut.

5. 

Mein Lernen im Leben war natürlich 1990 mitnichten abgeschlossen. Damals stand ich plötzlich in einem mir noch fremden Land vor der Wahl: Entweder ich lasse mich fortan verwalten oder ich versuche selbst etwas zu gestalten. Ich habe mich für die aktive Variante entschieden.
So kam ich in die Politik - erst auf Kommunal-Ebene, dann im Land Berlin und seit 1998 im Deutschen Bundestag. Bei alledem wurde mir nichts geschenkt. Ich musste mich durchsetzen und fast immer gegen Männer. Das ist mein Mutmacher für die anwesenden Frauen.

6. 

Mein politisches Motto ist übrigens biblischer Herkunft: „Einer trage des anderen Last!“ Damit will ich Werten, wie Solidarität und Gerechtigkeit, eine Stimme geben. Gewiss, es gibt auch andere Werte. Aber letztlich zählen nur die, die menschlich und mitmenschlich sind.
Das ist eine weitere Lehre, die mir mein Studium, vor allem aber das Leben mitgab. Ich habe gelernt, Gewissheiten zu mistrauen. Und ich habe zunehmend mehr Fragen als Antworten. Dem Genie Albert Einstein soll es ähnlich ergangen sein. Das macht mir Mut am Zweifeln.

7. 

Meine Fragen sind manchmal ganz einfach und manchmal bohrend. Zum Beispiel: Warum wird eine deutsche Kuh von der Weltwirtschaft zehnmal mehr subventioniert als ein afrikanisches Kind? Oder: Warum trifft ein Hurrikan in New Orleans die Armen stärker als die Wohlhabenden?
Sie haben erfolgreich studiert und sie streben nun Tätigkeiten an, in denen Kompetenz und Sendungsbewusstsein gefragt sein werde. Das kenne ich. Das wird von mir in jeder TV-Talk-Show erwartet. Bei alledem wird ausgeblendet: Man muss immer auch Zuhören wollen und können.

8. 

Vor einigen Wochen war ich im Touro Colleg. Ich wollte wissen, was sie dort studiert haben, wie und mit wem. Das hätte ich auch im Internet lesen können. Aber ich erfahre lieber life, worum es geht, und was von mir erwartet wird. Und damit bin ich wieder bei meinem Ausgangspunkt.
Es gibt auch einen Unterschied zwischen der virtuellen Welt und dem wahren Leben. Die virtuelle Welt ist Besitz ergreifend. Sie tut es immer mehr. Sie ist zuweilen ein Symbol des Fortschritts. Und sie kann durchaus nützlich sein. Ich nutze sie auch. Aber man darf nie vergessen: Sie trügt.

9. 

Bevor ich zugesagt habe, ihnen heute Glück zu wünschen, habe ich übrigens nachgelesen, was dem Studiengang vor ihnen auf den Weg mitgegeben wurde. Partiell war es ein Hohelied auf die Globalisierung. Ich will dagegen in guter demokratischer Manier Zweifel streuen.
Denken Sie einfach darüber nach, wenn Sie das Glas zuviel von der anschließenden Feier überwunden haben. Aber feiern Sie. Es ist ihr Tag. Sie haben dafür drei Jahre und mehr gearbeitet. Das ist aller Ehren wert. Ich gratuliere Ihnen dazu herzlich und ich wünsche ihnen alles Gute.

10. 

Schließlich danke ich Ihnen. Sie haben sich für das Touro-Colleg entschieden. Nicht irgendwo, sondern in Berlin. Ausgerechnet in Berlin, wo zwischen 1933 und 1945 der Holocaust beschlossen, geplant und koordiniert wurde. Er bleibt das größte Verbrechen an der Menschheit.
Sie werden nun, wo immer in der Welt, ihren Platz suchen. Mein Wunsch ist: Tun sie es auch als Botschafter oder Botschafterin des neuen Berlins, das seine Geschichte nicht vergisst, sondern weltoffen, tolerant und eine Stadt des Friedens sein will. Auch dafür wünsche ich uns viel Erfolg!
 

 

 

2.7.2007
www.petra-pau.de

 

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