Alles ist relativ

Petra Pau auf dem Politischen Aschermittwoch der PDS;
„Ständige Vertretung“ am Schiffbauerdamm, Berlin, 9. Februar 2005

1. 

Das Neue Jahr nahte mit Grausen. Eine unbändige Flutwelle riss in Südasien Hunderttausende in Tod. Sie verschlang Inseln und sie verwüstete ganze Regionen. Ihr kennt die Bilder. Der Welle folgte eine Woge der Solidarität. Sie ergriff Millionen, weltweit, auch in Deutschland, natürlich auch die PDS im Bundestag. Benefiz-Programme im Fernsehen würdigten Spenderinnen und Spender. Auch die ALDI-Brüder, die reichsten Deutschen. Beide sind Mehrfach-Milliardäre und beide spendeten 250.000 € für die Flutopfer.
 
250.000 €, das ist gerade Mal der Zins, den sie an einem einzigen Tag von den Banken kassieren. Mir fällt dazu nur Matthäus 6,24 ein. Denn schon in der Bibel heißt es: „Ihr könnt nicht beiden zugleich dienen: Gott und dem Mammon“. Hinzu kommt eine weltliche Parallele. 250.000 ALDI-€, das sind Peanuts gegen die aktuellen Steuergeschenke von Rot-Grün an Spitzenverdiener. Ich habe eine andere Vorstellung von Steuerpolitik und von Gerechtigkeit. Nicht „Geiz ist geil“, sondern „einer trage des anderen Last“. Und dafür werden wir uns weiter einsetzen, im Alltag und im Bundestag.
 
Immerhin: Die Bundesregierung war „spendabler“. Sie stellte 500 Millionen € als Wiederaufbau-Hilfe für die „Tsunami“-Länder in Aussicht. Ich habe das begrüßt. Aber: Nicht nur im „Einstein“-Jahr ist alles relativ. Einen Monat zuvor hatte der Bundestag nämlich 17 Milliarden € für zwei Rüstungsprojekte bewilligt. Das sind 34 Mal soviel, wie für die Flutopfer, das ist ein Punktsieg des Militärischen über das Zivile, das ist ein technischer k. o., das ist pervers!
Der wissende Humanist Einstein sagte übrigens „Die Rüstungsindustrie ist eine der größten Gefährdungen der Menschheit.“ Und er mahnte: „Das Denken der Zukunft muss Kriege unmöglich machen!“ Womit ich beim Unterschied zwischen Albert Einstein und Joseph Fischer wäre: Beide starteten mit revolutionären Paukenschlägen. Später unterschieden sich die Wege gravierend. Einstein wurde weise, Fischer hingegen Minister.

2. 

Das Wort des Jahres 2004 hieß „Hartz IV“. Es war in aller Munde, es regte auf, es regte an. Und manche wurden davon ganz offenbar sogar wirr. Zum Beispiel in Sachsen: Dort klebten Plakate „Herz statt Hartz“. Es waren Pappen der FDP, genau der FDP, der „Hartz IV“ im Bundestag zu lasch ist. Sachsens CDU-Ministerpräsident Milbradt wollte sogar gegen das „Hartz-IV“ demonstrieren. Zuvor hatte er das Gesetz mit verschärft und beschlossen. Auch das „linke Gewissen der Grünen“, Ströbele, hatte im Bundestag zweimal Ja gesagt. Anschließend radelte er mit der MLPD gegen den Imperialismus. Sage niemand, das sei schizophren. Das ist politischer Alltag in der PISA-Republik. Was nur zeigt: Eine grundlegende Bildungsreform ist überfällig!
 
Vor zwei Jahren hatte Bundeskanzler Schröder im Bundestag seine &#Agenda 2010“ begründet. Der Umbau des Sozialstaates sei Friedenspolitik, sagte er. Ich hatte ihm damals erwidert: „Wir sagen Ja zu ihrem Nein zum Irak-Krieg. Und wir sagen Nein zu ihrem Ja zum Sozialabbau!“ Praktisch erleben wir etwas anderes. Die Bundeswehr kämpft weltweit, an verschiedenen Fronten. Und der Sozialstaat leidet an verordneter Schwindsucht. Geleistete Arbeit wird entwertet, sie verkommt zu ungeschützten Billig-Jobs. Und wer arbeitslos ist, wird entmündigt und geknechtet, Datenklau inklusive. Ich bleibe bei meinem Urteil: „Hartz IV“, die ganze „Agenda 2010“ ist der Gegenentwurf zu einem modernen, sozialen Rechtsstaat. Deshalb unser Nein!
 
Aber zugleich sagen wir Ja. Wir sagen Ja zu einem neuen Gesellschaftsvertrag und wir sagen Ja zu einer „Agenda sozial“. Dieses Ja ist keine Kosmetik. Es zielt auf eine andere Politik und hat drei Voraussetzungen:
• Wir brauchen erstens eine andere Steuerpolitik, eine, die von oben nach unten umverteilt und nicht anders herum.
• Wir brauchen eine andere Sozialpolitik, eine die gerecht und solidarisch wirkt und nicht die Betroffenen zusätzlich belastet.
• Und wird brauchen mehr Demokratie und keine „Basta“-Politik. Soziale Gerechtigkeit und Demokratie gehören zusammen. Das macht die PDS erkennbar, unterscheidbar und wählbar, in Ost und West.

3. 

Die Wirkungen und Nebenwirkungen der „Agenda 2010“ sind allgegenwärtig. Ich erfahre sie auf Montags-Demos, in meinen Sprechstunden, in der Nachbarschaft. Ein namhafter Schriftsteller hat sich seinen eigenen Reim drauf gemacht. Er nannte sein Poem „Die freie Wirtschaft“. Ich zitiere daraus:
 
Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf Euren Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein.
Wir wollen freie Wirtschaftler sein!
 
Wir diktieren die Preise und die Verträge -
kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Ihr braucht keine Heime für Eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen.
Ihr solltet Euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
 
Und der Autor endet:
 
Das laufende Band, das sich weiter schiebt,
liefert Waren für Kunden, die es nicht gibt.
Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug sacht
Eure eigene Kundschaft kaputtgemacht.
Und Eure Bilanz zeigt mit einem Male
einen Saldo mortale.
Während Millionen stempeln gehen.
Die wissen, für wen!
 
Wer in diesen Zeilen das eine oder andere Bekannte, Aktuelle entdeckt, dem sei gesagt: Sie stammen von Kurt Tucholsky aus dem Jahre 1930.
 
„Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen“, heißt heute: Lohnnebenkosten senken und Billigjobs schaffen. „Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein“, heißt heute: Weg mit den Tarifverträgen und mit den Gewerkschaften. „Ihr solltet Euch allesamt was schämen, von dem armen Staat noch Geld zu nehmen‰, heißt heute: „Praxis-Gebühr“ und „ALG II“ und „Ein-Euro-Jobs“.

4. 

Tucho, wie Tucholsky achtungsvoll genannt wurde, liebte klare Worte. Widerworte, die heutzutage kaum noch Gehör finden, schon gar nicht bei „Sabine Christiansen“, der Volks-Uni für neoliberalen Schwachsinn. „Fünf Millionen Arbeitslose...“, war die jüngste Sendung überschrieben. Es übertrafen sich: Wirtschaftsminister Clement (SPD) - er findet „Hartz IV“ richtig; Angela Merkel (CDU) - sie findet „Hartz IV“ zu lasch; und Jürgen Thumann (BDI-Präsident) - er findet „Hartz IV“ absolut nicht ausreichend. Hartz-Betroffene, Andersdenkende, politische Alternativen waren beim ARD-Sonntags-Plausch erneut nicht gefragt.
 
Aber es kam noch schlimmer: Prof. Ulrich Blum, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, stellte fest: „Die NPD ist unerträglich, aber sie hat keine wirtschaftspolitische Kompetenz; da sind sie einfach tumb.“ Viel mehr Sorgen mache ihm die linke Seite, so Blum weiter, „wo vorgegaukelt wird, man könnte mit sozialen Errungenschaften aus alten Zeiten, die längst überwunden sind, noch mal den Staat retten. Das ist“, so immer noch der Professor, „viel, viel bedrohlicher!“
 
So werden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen vor Millionen-Publikum die Nazis verharmlost und Linke verteufelt - unwidersprochen, im 60. Jahr nach der Befreiung. Was bedrohlich belegt: Die Stichwortgeber kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Der Kampf gegen Rechts darf die Mitte nicht aussparen.

5. 

Allerdings enthält der Skandal bei „Christiansen“ auch eine ungewollte Unterbotschaft. Die NPD sei tumb, sie habe keine wirtschaftspolitische Kompetenz, meinte der Wirtschaftsprofessor. Im Gegensatz zur linken Seite, die obendrein den Sozialstaat retten wolle. Ja und so soll es bleiben. Wir haben immer gesagt: „Hartz IV“ ist nicht nur sozial ungerecht. „Hartz IV“ ist auch ökonomisch falsch, sobald man nicht engstirnig betriebswirtschaftlich, sondern weitsichtig volkswirtschaftlich rechnet.
 
Allein durch das karge Arbeitslosengeld II gehen dem Binnenmarkt Milliarden € Kaufkraft verloren. Das ist schlecht für den Westen und Gift für den Osten. Das gefährdet weitere Unternehmen und damit weitere Arbeitsplätze. Die Folge werden nicht weniger Arbeitslose, sondern mehr arme Arbeitslose sein. Oder wie Tucholsky schrieb:
 
Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug sacht
Eure eigene Kundschaft kaputtgemacht.
Und Eure Bilanz zeigt mit einem Male
einen Saldo mortale.
 
Wie gesagt: Er schrieb es 1930. Und um auch das noch aus den aktuellen Debatten über den Rechtsextremismus aufzugreifen: Wir haben keine Verhältnisse, wie in der „Weimarer Republik“. Wirklich nicht. Aber das ist kein Grund, politische Fehler der „Weimarer Republik“ zu wiederholen. Zu den Fehlern gehörten sicherlich drei: Das Soziale wurde gering geschätzt, die rechtsextreme Gefahr wurde unterschätzt und die Demokratie wurde kampflos preisgegeben. Genau das darf sich nicht wiederholen.
 
Deshalb sorgen mich die aktuellen Auseinandersetzungen zum Thema Rechtsextremismus extrem. Es mangelt an Sachlichkeit, an Gründlichkeit, an Stetigkeit. Den viel beschworenen Konsens der Demokraten gibt es bislang bestenfalls abstrakt. Dabei ist es höchste Zeit für Substanz. Stattdessen werden Steine aus Glashäusern geworfen. Ich hätte genug Munition, um mitzuschleudern. Aber ich will keinen Wettlauf, wer der vermeintlich bessere Antifaschist ist. Ich will eine gewollte Gesellschaft, in der der Mensch ein Mensch sein kann - alle Menschen.
 
Dafür brauchen wir dringend linke Verstärkung, auch im Bundestag. Also lasst uns das Projekt 04-06 gemeinsam vollenden: 2004 Wiederwahl ins EU-Parlament. Das ist gelungen. Und 2006 Wiederwahl als Fraktion in den Bundestag. Das steht bevor. Nicht als Drohung am Aschermittwoch, sondern als Angebot für die Zukunft.
 

 

 

9.2.2005
www.petra-pau.de

 

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