Links im 21. Jahrhundert

Rede von Petra Pau auf der Hauptversammlung der LINKEN Marzahn-Hellersdorf am 27. September 2014

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Vorab:
Ich bin gebeten worden, über die aktuelle Lage zu sprechen. Gern, aber was ist die Lage? Auch das sei vorausgeschickt: Ich weiß wohl, wie man Reden setzt, um nach jedem fünften Satz Beifall zu erheischen. Genau das will ich jetzt nicht. Ich möchte euch einige Gedanken nahe bringen, die mich als Linke umtreiben.

1. 

25 Jahre Deutsche Einheit
 
Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg bat mich, auf einer Veranstaltungsreihe zu sprechen. Ihr ahnt es vielleicht: Es geht um 25 Jahre Wende in der DDR und 25 Jahre deutsche Einheit.
 
Was den Veranstaltern dabei unter politischer Bildung vorschwebt, möge ein Blick in die Liste der angefragten Referenten zeigen: Hubertus Knabe, Marianne Birthler, Markus Meckel. Petra Pau als Exotin.
 
Ich habe dennoch zugesagt. Denn was wäre ich für eine Linke, würde ich kneifen. Außerdem wurde mir freigestellt, das Thema meines Beitrags selbst zu wählen.
 
Das tat ich. „Was heißt Linkssein im 21. Jahrhundert?“
Eine lohnende und spannende Frage, finde ich.

2. 

Marx lebt
 
Die Älteren unter uns werden sich erinnern:
 
Nach dem Ende der DDR frohlockte der damalige Sozialminister der Bundesrepublik Deutschland, Norbert Blühm (CDU): „Marx ist tot, Jesus lebt!“
 
Den Zusammenbruch der Sowjetunion kommentierte der USA-Politik-Wissenschaftler Francis Fukuyama als "Ende der Geschichte".
 
Beiden widerspreche ich vehement: dem ersten aus Überzeugung, dem zweiten aus Hoffnung und beiden als Linke.
 
Nein! Ich bin überzeugt: Weder die wissenschaftliche Analyse von Karl Marx, noch linke Politik haben sich erledigt. Im Gegenteil!

3. 

Sieben linke Klassiker
 
Alle zentralen linken Themen sind aktueller, denn je.
• Die soziale Frage feiert schlimme Urständ. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer zahlreicher und zudem immer ärmer.
• Die Utopie der Freiheit für alle rückt für immer mehr in weite Ferne, auch, weil ihnen die soziale Basis dafür verwehrt wird.
• Die Friedensfrage gerät zunehmend aus den Fugen. Selten hat es weltweit so viele kriegerische Konflikte gegeben.
• Die ökologische Frage drängt auf eine globale Lösung. Der „Club of Rome“ hatte sie bereits vor einem halben Jahrhundert aufgerufen.
• Die Demokratie, die westliche Vorzeige-Flagge, wird durch denselben Westen politisch vielfach und höchst bedrohlich attackiert.
• Die Bürgerrechte, grundgesetzlich und völkerrechtlich verbrieft, werden zunehmend einer vermeintlichen Sicherheit geopfert.
• Die Gleichberechtigung, von Mann und Frau, von hier Geborenen und hier Lebenden, von Menschen mit und ohne Behinderungen, usw. lahmt.
 
Ich nenne dies die sieben Klassiker der Linken. Sie alle sind unerfüllt.
 
Sollte dies also das Ende der Geschichte sein, wie damals prophezeit, so wäre es eine schlechte Geschichte und ein schlechtes Ende.
 
In dieser Sicht stimme ich partiell sogar mit Papst Franziskus überein. Er bezeichnete jüngst den Kapitalismus als unerträglich. Und er kritisierte:
„Das Wirtschaftssystem sollte im Dienst der Menschen stehen. Aber wir haben das Geld in den Mittelpunkt gerückt, das Geld als Gott!“

(DIE ZEIT, 13. Juni 2014)

4. 

Wahlen 2014
 
Und doch haben wir ein Problem, hat die Linke ein Problem.
Das sage ich auch mit Blick auf aktuelle Debatten.
 
Wir hatten 2014 vier Wahlen, eine zum EU-Parlament, drei zu den Landtagen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen.
 
Alle vier zeigten zwei Trends:
• Die Wahlbeteiligung sinkt,
• der Zuspruch zu rechten Parteien steigt,
hierzulande und EU-weit.
 
Zu den Verlierern gehört auch die Linke, wieder hierzulande und EU-weit,
 
Übrigens egal, ob Linke sich aus Regierungsbeteiligungen oder aus der Opposition heraus zur Wahl stellten.
 
Die Ursachen müssen also tiefer liegen und bedürfen daher gründlicher Analysen.
 
Trotzdem gab es nach den Landtagswahlen manch forsche Äußerung aus Teilen der Linken gegen Mitglieder der Linken. - anmaßend, arrogant und einer solidarischen Linken unwürdig.

5. 

Ein Credo von Heym
 
Ich folge lieber einem Credo von Stefan Heym, das auch Lothar Bisky gelebt hat. Der Sozialist Stefan Heym sagte 1994 als Alterspräsident des Deutschen Bundestages:
 
„Toleranz und Achtung gegenüber jedem einzelnen und Widerspruch und Vielfalt der Meinungen sind vonnöten,
 
ebenso eine politische Kultur, mit der unser Land, das geeinte, seine besten Traditionen einbringen kann in ein geeintes, freies und friedliches Europa.“

 
Stefan Heym wurde damals vom Bundestag mit Missachtung gestraft. Lothar Bisky erging es 12 Jahre später nicht besser. Das sagt viel über den schlechten Zustand der Gesellschaft und ihrer vermeintlichen politischen Klasse aus. Aber ist die Linke kulturell wirklich immer besser drauf?
 
Leider nicht, manch politischer Kleinkrieg begleitet uns in Neuauflagen seit nunmehr fast 25 Jahren.
 
Und deshalb ist meine erste Schlussfolgerung aus den Wahlergebnissen:
Genau das muss aufhören. Wer eine solidarische Gesellschaft predigt, muss sie vorleben, sonst wird er unglaubwürdig.

6. 

Das Gegenteil der AfD
 
Noch mal zurück zu Stefan Heym. Er plädierte
• für Toleranz und Achtung gegenüber jeder und jedem,
• für Widerspruch und Vielfalt der Meinungen,
• für Frieden und Freiheit,
• für ein geeintes Deutschland in einem geeinten Europa.
 
Das war nicht nur ein kulturelles Fürwort, es war ein politisches.
Sein Plädoyer ist das ganze Gegenteil von dem, was die AfD predigt.
 
Daher meine zweite Schlussfolgerung aus den Wahlergebnissen:
 
Wer glaubt, Anleihen bei der AfD könnten helfen, ist auf dem Holzweg.
DIE LINKE würde dadurch nicht einmal wählbarer.
 
Meine dritte Schlussfolgerung ist nicht neu. Die Linke muss sich mehr denn je als moderne sozialistische Bürgerrechtspartei profilieren.
 
Die aktuellen Wahlen haben erneut gezeigt: Die größte Fraktion ist längst die der Nichtwähler. Von Demokratieverdruss ist die Rede.
 
Demokratieverdruss ist immer ein Einfallstor für rechtsextreme Kameraden mit ihren nationalistischen Parolen.
 
Gegen Demokratieverdruss wiederum hilft letztlich nur mehr Demokratie, mehr direkte Demokratie, vor Ort, im Land, im Bund, in der EU.
 
Das Thema ist natürlich viel komplexer, als ich es hier aufrufe.
Aber es muss als linkes Markenzeichen gelten.

7. 

Angriffe auf die Demokratie
 
Und deshalb verweise ich auf drei aktuelle Mega-Gefahren für die Demokratie. Das sind:
 
• erstens die Dominanz der Finanzmärkte über ganze Staaten, damit über die Politik und mithin über Parlamente.
 
• zweitens das unkontrollierbare Agieren von Geheimdiensten, die von ihrem Wesen her ein Widerspruch zur Demokratie sind. (NSA)
 
• drittens das angestrebte Freihandelsabkommen zwischen USA und EU, womit demokratische Grundsätze dem Profit geopfert würden. (TTIP)
 
Alle drei sind Herausforderungen, die es der Linken nicht leicht machen. Denn alle drei sind schwer durchschaubar. Geheimdienste ohnehin, die Finanzwelt ebenso und die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen werden unter Verschluss gehalten.
 
Aber es gibt Widerstand dagegen, außerparlamentarisch, international, im Internet. Da gehören wir hin, als Partner und Angebot.
 
Wenn wir uns über all das einig sind, dann können wir als Partei DIE LINKE auch eifrig über fragwürdige Entscheidungen streiten: Über Braunkohle in Brandenburg, Plakate in Sachsen, Hunde in Thüringen.
 
Hilfreiche Wahlanalysen überlasse ich gern jenen, die sie seriös vornehmen: ohne Selbstzerfleischung und ohne Weihrauch.

8. 

Krieg und Frieden
 
Nun komme ich doch noch mal auf „die Lage“ zurück, die Weltlage.
Sie ist explosiv, wie lange nicht. Die Zahl militärischer Konflikte steigt und steigt. Manche bergen das Potenzial zum Weltkrieg.
 
DIE LINKE versteht sich als Friedenspartei, die für Gewaltfreiheit eintritt, innerhalb von Gesellschaften und zwischen Staaten.
 
• Wir engagieren uns gegen Kriege und Kriegsursachen.
• Wir streiten gegen Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen.
• Wir lehnen die militärische Denklogik ebenso ab, wie Waffengeschäfte.
• Wir sind für radikale Abrüstung, allemal bei Atomwaffen.
 
In diesem Sinne agiert die Fraktion DIE LINKE auch bei den beiden Großkrisen, die im Bundestag aktuell und wiederholt debattiert wurden.
 
Damit meine ich den Ukraine-Konflikt, der im Kern ein globaler Macht- und Einflusskampf der USA und Russlands ist, zweier Atommächte. Und ich spreche über die Massenmordende Terrorarmee „Islamistischer Staat“ (IS), die im Irak, in Syrien und darüber hinaus wütet.
 
Meist stehen wir mit unseren Positionen allein da. Wir wurden als „Putin-Versteher“ verhöhnt oder als „verantwortungslos“, beschimpft.
 
Das alles halten wir aus. Ich erzähle eine andere Geschichte.
Es ging um die Frage, ob auch Deutschland Waffen an kurdische Truppen liefern soll, die sich dem IS-Terror entgegen stellen?
Und es geht inzwischen auch darum, wie wir den militärischen Einsatz der USA und weiterer Staaten in den IS-Todesregionen bewerten?

9. 

Linke und UNO
 
Sage bitte niemand, das sei doch alles klipp und klar und obendrein im Programm der LINKEN festgeschrieben.
 
Wir haben gegen deutsche Waffenlieferungen gestimmt. Und wir haben zudem als einzige im Bundestag auf das Völkerrecht verwiesen.
 
Denn der Militäreinsatz der „US-Allianz der Willigen“ ist genauso völkerrechtswidrig, wie die Annexion der Krim durch Russland.
Willkür wird enthemmt, Recht entrechtet, all das gebiert Ungeheuer.
 
Wir, die Fraktion DIE LINKE, hatte jeweils eigene Anträge gestellt.
Im so genannten Ukraine Konflikt forderten wir, die OSZE zu aktivieren.
Im Kampf gegen die IS-Terroristen forderten wir dasselbe von der UNO.
So weit, so gut und für viele auch nachvollziehbar. Aber nicht für alle.
 
Denn prompt wurde eine alte Frage neu in Stellung gebracht. Ein Streit, der anno 2000 schon einmal einen PDS-Parteitag zu Münster zerriss: Darf sich die Linke überhaupt positiv auf die UN-Charta und auf den UNO-Sicherheitsrat berufen? Die Fraktion DIE LINKE tat es.
 
Ein Mitglied der Fraktion stimmte dagegen. Das ist ihr gutes Recht. Hernach rückte sie namentlich und öffentlich vier Mitglieder der Fraktion für ihr pro UNO in eine Kriegstreiber-Ecke. Unsäglich, finde ich.
 
Diese Geschichte ging durch etliche Medien. Deshalb offenbare ich hier auch gar keine Interna. In meinem Kopf geistern seither zwei ganz andere Bilder. Das erste ist aktuell.

10. 

Alternativlos ist Unsinn
 
Wir sprachen in der Fraktion mit Vertretern der Friedensbewegung. Einer ist Jesid. Seine Familie wird vom IS-Terror tödlich bedroht. Er sprach vom Genozid und bat eindringlich, die Linke möge Waffenlieferungen an Kurden zustimmen. Er ist übrigens Mitglied der Partei DIE LINKE.
 
Nun frage ich: Würde die fraktionsinterne Wächterin vermeintlich roter Haltelinien auch ihn als Kriegstreiber geißeln? Es würde mich gruseln.
 
Historisch nachgeschoben: Die DDR ist an vielem gescheitert. Final daran, dass sich das reale Leben einfach nicht daran gehalten hatte, was die Partei als wahr, gut und alternativlos beschloss.
 
Auch das sollten wir bei allen parteiinternen Kontroversen nicht vergessen. Und umgekehrt: Die aktuellen Regierungen verkaufen uns Müll, Unsinn und Schlimmeres als alternativlos.
 
Es gibt Alternativen, immer. Früher haben junge Menschen sie übrigens mehrheitlich links gesucht, heute zunehmend rechts. Auch darüber müssen wir nachdenken und reden.

11. 

Linkssein im 21. Jahrhundert
 
Nun noch mal zu meinem Ausflug nach Stuttgart zur Landeszentrale für politische Bildung. Natürlich werde ich dort etwas zum Scheitern der DDR sagen. Die Gründe waren vielfältig, meine ich.
 
Ein Grund war eine optimistische Fehlinterpretation von Karl Marx. Wir wähnten uns dem kapitalistischen System überlegen. Wir glaubten und suggerierten, der Geschichte voraus zu sein.
 
Karl Marx hatte in seiner „Kritik der politischen Ökonomie“, gemeint:
 
„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist ...“
 
Und weiter:
„... neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“
 
Der real-existierende Sozialismus, nicht die Sowjetunion, nicht die DDR hatte zu keiner Zeit Produktivkräfte entwickelt, die dem Kapitalismus überlegen waren und über ihn hinauswiesen.
 
Das ist meine bittere Erkenntnis,
 
Aber könnte es nicht sein, dass im Sinne von Karl Marx, im Schoße des Kapitalismus inzwischen materielle Möglichkeiten ausgebrütet werden, die über ihn hinausweisen?
 
Das ist meine linke Hoffnung.

12. 

Links: sozial, grün und Pirat
 
Jede historische gesellschaftliche Umwälzung hatte zwei materielle Revolutionen zur Grundlage: bis dato nicht gekannte Möglichkeiten der Kommunikation und epochal neue Energiequellen.
 
Wenn das stimmt, und diese Theorie wird von vielen geteilt, dann hätte das für die soziale Partei DIE LINJKE zwei logische Schlüsse: Als Linke muss sie zugleich grün und Pirat sein, um im 21. Jahrhundert zu wirken.
 
Daher mein Schlussgedanke: Vieles, mit dem wir uns rumschlagen, stammt aus dem 20. Jahrhundert. Wollen wir aber eine Linke der Zukunft sein, dann müssen wir weiterdenken.
 
Dann reicht es auch nicht, eine Umverteilungspartei für soziale Gerechtigkeit anno 1990 zu sein. Wirtschaft, Wissenschaft, Umwelt, Internet, das alles sind linke Zukunftsthemen oder müssen es werden.
 
Umfragen sagen: man traut sie uns nicht zu. Ich finde: Wir sollten sie uns umso mehr zutrauen. Nicht als Nischen- oder Flügelthemen, sondern als zentrale Herausforderung von Linken aller Couleur im 21. Jahrhundert.
 
Das Konzept „Plan B“ der LINKEN bietet dafür einen guten Ansatz.
„Die Lage“, über die ich reden sollte, drängt danach.
 

 

 

27.9.2014
www.petra-pau.de

 

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