Das „Ossi“ tickt anders! Schon wieder?

Symposium der Rosa-Luxemburg-Stiftung an der Hebräischen Universität Jerusalem „20 Jahre Deutsche Einheit - Ein Staat und zwei Identitäten“
Jerusalem, 15. November 2010
Rede von Petra Pau

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Ich werde ihnen ein paar Geschichten erzählen. Damit komme ich gar nicht erst in die Versuchung so zu tun, als sei ich Soziologin oder Historikerin. Diese Parts sind auf dieser Tagung ohnehin prominent besetzt.

Eine zweite Vorbemerkung: Ich spreche hier nicht als Vizepräsidentin des Bundestags, sondern als Linke mit DDR-Wurzeln. Das gestattet mir einige undiplomatische Zuspitzungen.

Eine dritte und wichtige Vorbemerkung: Ich halte die europäischen Entwicklungen 1989/1990 für ein unerwartetes Wunder. Aber auch für ein ungenutztes Wunder. Genug der Vorrede.

Die erste Geschichte spielt im Sommer 1990, in Berlin, in Ost-Berlin. An einer Hauswand stand in großen Lettern: „Das Chaos ist aufgebraucht! Es war die schönste Zeit!“ Mit „Chaos“ und „schönste Zeit“ war nicht die DDR gemeint, sondern die „Wende“. Andere nennen diese Zeit auch „friedliche Revolution“. Hartgesottene Kommunisten sprechen von Konterrevolution. Genau genommen umfasste die vielzitierte Wende nur drei Monate, von Dezember 1989 bis März 1990. Dann war das Chaos aufgebraucht.

Ich habe dieses Demokratie-Hoch einmal so beschrieben: „Es war eine Zeit, in der öffentliche Belange öffentlich ausgehandelt wurden, in der Bewegung in scheinbar unverrückbare Machtverhältnisse kam, in der Journalisten ihre gewonnene Freiheit in den Dienst der Aufklärung stellten, in der die Opposition regierte und die Regierung opponierte, in der die Bürgerschaft hoch interessiert war, in der das Politische, um mit Hannah Arendt zu sprechen, ungeahnte Urständ feierte.“

Hoffen und Bangen lagen seinerzeit für viele Bürgerinnen und Bürger eng beieinander. Der Ausgang war ungewiss. Die einen träumten damals von einem „3 Weg“, jenseits von DDR-Sozialismus und BRD-Kapitalismus. Andere sahen in der BRD ihre Erfüllung, jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland, die sie aus dem West-Fernsehen kannten. Entscheidend aber war: Immer mehr bekamen das Gefühl, sie können etwas bewegen, sie sind als Bürgerinnen und Bürger gefragt.

Diese Erfahrungen muss man im Hinterkopf haben, um zu begreifen, warum heute immer mehr Ossis das politische System und die praktizierte Demokratie im vereinten Deutschland für beschränkt halten. Schlimmer noch: Viele wenden sich ab. Aus Hoffnung wurde Enttäuschung, aus Parteienverdruss wird Demokratieverdruss. Das wiederum ist ein Einfallstor für Rechtsextreme. Meine linke Antwort darauf lautet: Mehr Demokratie wagen, mehr direkte Demokratie.

Ich füge hinzu:
Der Befund, dass Parteienverdruss in Demokratieverdruss umschlägt, trifft zunehmend auch auf viele Wessis zu. Immer mehr fühlen sich fremden Mächten ausgeliefert, seien es globale Großkonzerne, seien es entfesselte Finanzkasinos, seien es ohnmächtige Regierungen.

Die zweite Geschichte: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört!“ Das ist in Deutschland ein viel zitierter Satz. Er wird Willi Brandt zu geschrieben. Er war Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er war Vorsitzender der SPD. Er erhielt den Friedens-Nobel-Preis. Willi Brandt war eine Autorität mit antifaschistischer Biografie. Immer, wenn mir der schöne Satz „jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ entgegenschlägt, antworte ich gern mit einem Original-Zitat von Willi Brandt. Er mahnte nämlich 1991 im Deutschen Bundestag:

Nur „mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört.“ Offenbar kannte Willi Brandt seine West-Pappenheimer. Und er sollte leider Recht behalten. Es gibt kaum westlichen Respekt vor ostdeutschen Lebensleistungen. Es gibt im Westen des neuen Deutschland nicht einmal ein ausgeprägtes Interesse an allem, was im Osten war und was im Osten ist. Der Osten gilt vielen als teurer Klotz am Bein, als Fass ohne Boden. Sie werden belogen.

Im Bundestag bekomme ich viel Besuch. Im Wochentakt melden sich Gruppen an. Vor Jahresfrist kam eine besondere. Es waren Christen aus dem Nordwesten, aus Schleswig-Holstein. Seit Jahren reisen sie zwei Mal im Jahr in die ostdeutschen Länder, um „Ossis“ kennen und verstehen zu lernen. Sie sind die absolute Ausnahme. Das Gros der Westdeutschen interessiert sich nicht für die neuen Bundesländer. New York und Mallorca sind ihnen näher, als Dresden oder Weimar.

Die dritte Geschichte: „Renft“ hieß eine Musikgruppe in der DDR. Sie gehörte zur Gründergeneration des „Ost-Rocks“. Ost-Rock bedeutete: Die Musiker spielten nicht mehr einfach nach, was in den USA oder in England gerade Mode war. Sie schrieben eigene Titel mit eigenen Texten. Anfangs waren sie DDR-freundlich. Zunehmend wurden sie DDR-kritisch. Schließlich rockten sie gegen das real-sozialistische System an. So kamen sie ins Visier der Staatssicherheit, des Geheimdienstes.

Die „Renfts“ durchliefen alle Repressions-Stufen. Erst wurden einzelne Titel zensiert. Dann erhielten sie Auftrittsverbot. Schließlich wurden sie in den Westen Deutschlands abgeschoben. Die Meinungsfreiheit wurde ausgesetzt, ein Berufsverbot wurde verhängt und das verbriefte Recht auf Staatsbürgerschaft wurde aufgekündigt. Der international bekanntere Fall dieser Art dürfte der von Wolf Biermann sein. Aber der interessantere, finde ich, ist der von Klaus Renft und seiner Band.

Sie überwinterten nach ihrer Ausbürgerung aus der DDR in West-Berlin und wurden dort, nach eigenen Aussagen, nie heimisch. Als Musiker mit politischen Ansprüchen fühlten sie sich dort unverstanden. Sie schlugen sich als Hilfsarbeiter durch. Kaum war die Ost-West-Grenze offen, also im Herbst 1989, kehrten sie in ihre alte Heimat zurück. Fünf Jahre später spielten sie auf einer Wahlparty meiner Partei.

Zur selben Zeit wurde Klaus Renft gefragt, was nun, rückblickend, sein Bild auf die DDR präge. Seine Antwort sinngemäß: Ich hatte immer drei Bilder von der DDR. Das eine wollte mir das Staatsfernsehen beibringen. Diese DDR kannte ich nicht. Mein zweites Bild erlebte ich im Alltag. Diese DDR wollte ich nicht. Mein drittes entsprang meinen Wünschen. Aber diese DDR gab es nicht.

Heute - im Jahr 20 der deutschen Einheit - überfällt immer mehr Bundesbürger - im Osten, aber auch zunehmend im Westen Deutschlands - genau dieses unverträgliche Dreierlei wieder. Das Deutschland, das ihnen von Politikern feilgeboten wird, ist ihnen fremd. Das Deutschland, das sie erleben, wird ihnen unheimlich. Und das Deutschland, das sie sich wünschen, gibt es nicht.

Auch das stützt meine These: Mit dem Beitritt der DDR 1990 ist die Bundesrepublik Deutschland größer geworden, aber nicht besser.

Eine vierte Geschichte: Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte eine gute Idee. Aus Anlass „20 Jahre deutsche Einheit“ ließ sie ihre Ossis aufschreiben, wie sie die Zeit seit 1989 erlebt haben. Die Zahl der so veröffentlichten Artikel ist überschaubar. Denn es gibt beim „Spiegel“ nur wenige Journalisten mit DDR-Wurzeln. Es gibt überhaupt nur ein „Ossi“, das es inzwischen in Chef-Etagen geschafft hätte: Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ansonsten sind die Politik, die Wirtschaft, die Medien noch immer durchweg west-dominiert.

Nun also die Mini-Serie im „Spiegel“. Ein Autor heißt Stefan Berg. Er wuchs in Ost-Berlin, im aufmüpfigen Prenzlauer Berg auf. Ich kenne ihn seit 15 Jahren und ich weiß daher: Er ist kein Fan meiner Partei. Umso bemerkenswerter sind zwei Sätze in seinem Artikel. „Mit der Wende kam die Freiheit und mit der Einheit die Fremde.“ Und er beschrieb: In Redaktionskonferenzen des „Spiegels“ wurde er mehr und mehr zu einem Verteidiger der DDR, was er früher nie sein wollte.

Damit sie den ersten Satz richtig deuten können, füge ich hinzu: In vielen westdeutschen Rückblicken wird suggeriert, die Einheit habe den Ossis die Freiheit gebracht. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung brachte es sogar fertig, drei Hauptakteure von damals als die maßgeblichen Freiheits-Kämpfer zu ehren: Alt-Kanzler Kohl, Ex-US-Präsident Bush Senior und Ex-KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow. Das „Volk“ der DDR kam bei dieser 20-Jahre-Huldigung nicht mehr vor.

Den zweiten „Spiegel“-Artikel aus Ossi-Sicht schrieb Wiebge Hollersen. Ihre Geschichte beginnt am Vorabend der deutschen Einheit, am 2. Oktober 1990. Sie war damals 16 Jahre alt. Zitat: „Ich fürchtete den Sozialismus nicht mehr und den Kapitalismus noch nicht.“ Wiebge Hollersen kenne ich nicht persönlich. Aber der Satz ließ mich aufmerken. Warum schreibt sie heute, 20 Jahre danach, rückblickend: „Ich fürchtete (...) den Kapitalismus noch nicht.“

Sie schrieb aktuell: „Ich schaue die neue ARD-Familienserie 'Weißensee', in der sich der Sohn eines Stasi-Generals in die Tochter einer Dissidentin verliebt. (...) Ich kannte keine Stasi-Generäle und keine echten Dissidenten. (Aber das sind) die einzigen Figuren, die wohl am Ende übrig bleiben werden.“ Von mir übersetzt: Von der 40-jährigen Geschichte der DDR lässt die dominierende West-Sicht nur noch Dissidenten und Stasi-Generale überleben, Gut und Böse.

Meine fünfte Geschichte: Aber selbst mit den Dissidenten aus DDR-Zeiten ist es so ein Ding. 2001 veröffentlichten namhafte Bürgerrechtler aus DDR-Zeiten einen Appell: „Wir haben es satt!“. Vorausgegangen waren die verheerenden Anschläge in den USA am 11. September 2001. Auch in Deutschland wurden so genannte Anti-Terror-Gesetze beschlossen. Etliche wurden später durch das Bundesverfassungsgericht kassiert, weil sie gegen Bürgerrechte verstießen. Noch klarer formuliert: Die Regierung hatte versucht, die Verfassung zu brechen.

Das war in der DDR eine durchaus gängige Praxis. Und das war ja auch ein Grund, warum 1989 die Proteste so anschwollen. Mutige DDR-Bürgerrechtler prägten den Aufstand, häufig unterstützt durch namhafte West-Medien. Viele von ihnen erhielten im vereinten Deutschland hohe und höchste staatliche Orden für ihren Mut und für ihr Engagement zu DDR-Zeiten. Nun, im Jahr elf der deutschen Einheit, geschah etwas Unerwartetes. In der BRD hoch dekorierte Bürgerrechtler aus DDR-Zeiten begehrten im vereinten Deutschland schon wieder auf.

Ein Zitat aus dem Appell: „Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich gestört. Das war 1989 so. Und das gilt heute wieder. Wir fühlen uns in wachsendem Maße ohnmächtig gegenüber wirtschaftlichen, militärischen und politischen Strukturen, die für Machtgewinn und Profit unsere Interessen in lebenswichtigen Fragen einfach ignorieren. Wir fühlen uns in unserer Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen unseres Landes und der Welt mehr und mehr an die uns wohlbekannten Übel der Diktatur erinnert.“

Das war starker Tobak! Keine der großen Zeitungen und kein großer Sender verbreitete diesen Appell. Er traf zwar das Gefühl vieler Ostdeutscher. Er widersprach aber dem Selbstbildnis des Westens im neuen Deutschland. Die vordem hoch gelobten Bürgerrechtler im Osten galten nun als ungeliebte Störer aus dem Osten. Das verbreitete Westbildnis heißt: Die DDR war die Hölle, die BRD war das Paradies. Die meisten Ossis finden sich in diesem Schwarz-Weiß-Bild nicht wieder, weder als Höllen-Hunde damals, noch als Paradies-Vögel heute.

Warum habe ich diese fünf Geschichten erzählt? In der Hoffnung, ihnen ein Gefühl vermitteln zu können, warum viele Ossis sich im neuen Deutschland nicht heimisch, unverstanden und zweitrangig wähnen. Hatten sie nicht das doppelte Wunder vollbracht? Ein politisches System abgeschafft, das sie nicht mehr wollten? Einen kalten Krieg beendet, der die Welt atomar bedrohte? Und beides friedlich - ohne einen Schuss?

Diese fünf Geschichten spiegeln Persönliches, sie beschreiben Erwartungen und sie vermitteln Enttäuschungen. Ob sie überhaupt repräsentativ sind, auch darüber lässt sich trefflich streiten. Zumal: Es gibt weder „das Ossi“, noch „das Wessi“. Die Geschichten blenden auch aus, dass es nicht nur um deutsche Geschichte geht. Das, was ich eingangs als „Wende“ beschrieb, ist ohne ähnliche Entwicklungen in Ost-Europa undenkbar.

Diese Geschichten geben auch noch keine Antwort auf die Frage, ob wir es im vereinten Deutschland mit zwei Identitäten zu tun habe. „Der Osten tickt anders - schon wieder?“, hatte ich vorab meinen Beitrag überschrieben. Tickt der Osten wirklich anders? Und wieso „schon wieder“? Oder immer noch? Oder anders gefragt: Gibt es unterschiedliche Prägungen aus 40 Jahre deutscher Teilung, die als typisch West oder typisch Ost fortwirken?

Es gibt sie. Ich vermute, Prof. Wolfgang Engler wird sich auch damit soziologisch fundiert befassen. Ich verweise auf drei Umfragen, die seit Jahren wiederholt werden. Die erste: „Was ist ihnen im Zweifel wichtiger - soziale Gerechtigkeit oder individuelle Freiheit?“ Die Antworten zeigen wesentliche Unterschiede. Westdeutsche entscheiden sich vorwiegend für Freiheit, Ostdeutsche mehrheitlich für Gerechtigkeit.

Die zweite Umfrage: „Der Sozialismus ist eine gute Idee, die nur schlecht verwirklicht wurde.“ Dieser These stimmen für mich überraschend rund 45 Prozent der Westdeutschen zu, aber mit 75 Prozent deutlich mehr Ostdeutsche. Die dritte fragt nach Akzeptanz des Wirtschaftssystems in der Bundesrepublik Deutschland. 39 Prozent der Westdeutschen finden es gut. In den ostdeutschen Bundesländern sind es nur 19 Prozent.

Diese Ergebnisse müssen verwundern. Hatten die Ossis nicht 1989 aufbegehrt, um endlich westliche Freiheit zu erlangen? Hatten die Ossis nicht nach der D-Mark gestrebt, weil sie den Mangel der DDR-Planwirtschaft satt hatten? War der ostdeutsche Drang zur Einheit mit dem Westen Deutschlands nicht vor allem eine Flucht vor neuen sozialistischen Experimenten? Das Ossi tickt offenbar doch anders, als das Wessi.

Aber das Wessi tickt zunehmend auch nicht mehr wie gewohnt und wie gewünscht. Immer mehr bezweifeln, dass die praktizierte Demokratie die bestmögliche Demokratie ist. Immer mehr erleben, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher werden. Und immer mehr monieren, dass die wirklichen Zukunftsfragen umgangen werden, nämlich die nach sozialer Sicherheit und individueller Freiheit für alle - weltweit.

Abschließend sei mir noch eine Geschichte gestattet. Wiederkehrend flammt in Deutschland eine Diskussion auf, welcher Feiertag denn angemessen sei, an die Ereignisse von 1989/90 zu erinnern. Offiziell ist es der 3. Oktober, der Tag des Beitritts der DDR zur BRD. Gelegentlich wird auch der 9. November ins Spiel gebracht, weil am 9. November 1989 die Grenze zwischen der DDR und der BRD geöffnet wurde.

Der 9. November ist im deutschen Kalender fürwahr ein geschichtsträchtiger Tag. 1918 begann die November-Revolution, die mit den Namen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verbunden ist. 1923 versuchte Hitler die Weimarer Republik weg zu putschen. 1938 begannen die faschistischen Pogrome gegen Jüdinnen und Juden. 1989 wurde die Berliner Mauer geöffnet. Wie kann man das alles gemeinsam feiern? Man darf es nicht!

Vor einem Jahr gab es in Berlin eine große Feier, die an die Grenzöffnung 1989 erinnerte. Ich war kurz dabei. Dann fuhr ich in den Grunewald, ans „Gleis 17“. Von dort wurden in der Nazi-Zeit Tausende Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager und damit in den Tod transportiert. Schülerinnen und Schüler, auch Polizei-Anwärter erinnerten daran. Auch vorige Woche wieder. Ich war wieder dabei. Das ist wichtiger.
 

 

 

15.11.2010
www.petra-pau.de

 

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