Arbeitslosengeld II - zum Nachdenken

Von Antje Walter, Sprecherin der Arbeitslosen-Initiative Dresden

Liebe Anwesende!

Der Bundeskanzler sagte auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall: „Ich weiß, ich kann Sie nicht um Unterstützung bitten, aber ich bitte Sie nachzudenken.“ Diesen Appell möchte ich zurückgeben. Nämlich darüber nachzudenken, wie es den Betroffenen geht.

Hartz I und II haben schon starke Einschnitte bei vielen Arbeitslosenhilfe-Empfängern gebracht. Ich lade alle Bundestagsabgeordnete ein, eine Woche in unserer Beratungsstelle zu verbringen. Es ist schwer den Ratsuchenden zu erklären, dass die Einkommensanrechnung des Partners richtig durchgeführt wurde. Wegfall des Freibetrages für Erwerbstätigkeit von 150 €. Kürzung des Mindestfreibetrages von 602 € auf 482 €. Für nicht wenige Betroffene heisst das, 270 € weniger im Monat. Für die Betroffenen, die die Möglichkeit hatten für das Alter vorzusorgen, heisst es jetzt, diese Ersparnisse anzugreifen, weil der Freibetrag von 520 € pro Lebensjahr auf 200 € abgesenkt wurde (für vor dem 01. 01. 1948 Geborene alter Stand). Vor allem für Männer ist es schwer, zu verstehen, dass sie finanziell von ihrer Frau abhängig gemacht werden. Hin und wieder kommt dann der Spruch, da bleibt mir ja nur noch der Sprung von der Brücke.

Arbeitslosengeld II bedeutet weitere enorme Einkommensverluste gegenüber der heutigen Arbeitslosenhife. Der Arbeitslose wird zum Hilfebedürftigen und mit ihm seine Familie. Ein Fallmanager wird sich um ihn kümmern. Es wird die gläserne Familie geben. Durch die Kürzung des Arbeitslosengeldanspruchs ist man ganz schnell da angelangt. Ich weis wovon ich spreche. Meine ABM-Stelle geht im Februar zu Ende. Nach ein paar Monaten Arbeitslosengeld bin ich eine Hilfebedürftige und mit mir meine Familie.

Einem alleinstehenden Menschen-Ost werden 331 € zugestanden. Dazu kommt die angemessene Miete. Und wieder haben wir die unsichtbare Mauer ein Stück erhöht. Alleinstehende in den alten Bundesländern bekommen 345 €. Ein Ehepaar wird nach dem Bedarf berechnet, wie die heutige Sozialhilfe. Jegliches Einkommen wird gegengerechnet. Dabei bekommen zwei Personen nicht etwa 2x 331 € zugestanden, sondern davon nur 90%.

Bleiben wir bei einem alleinstehenden Hilfebedürftigen. 331 €, das sind elf € täglich. Alle Aufwendungen, außer Miete, müssen davon bestritten werden. Das sind Nahrung, Kleidung, Energieverbrauch, Möbel, technische Haushaltgeräte, Fahrkarte, Telefon, Versicherungen, Warmwasser, Arzt-Praxisgebühr, Zuzahlungen zu Heil- und Hilfsmittel, kulturelle, politische und soziale Teilhabe am Leben. Bei einer größeren Notlage (die Waschmaschine kann ja mal kaputtgehen), bekommt man ein Darlehen, welches man von elf € täglich zurückzahlen muss. Das Wort „Urlaubsreise“ kann aus dem Wortschatz gestrichen werden. Frisörbesuche werden zum Luxus, genauso wie Brillen und Zahnersatz. Nicht mehr so gut sehen ist praktisch. Schaufensterauslagen wecken nur Bedürfnisse, die sowieso nicht befriedigt werden können. Zahnersatz - was solls - viel zu beißen haben wir ja doch nicht mehr, wir Hilfebedürftigen.

Wer denkt an die Kinder aus diesen Familien? Ich denke an eine Frau aus der Beratung. 42 Jahre, 2,5 Jahre erwerbslos, zwei schulpflichtige Kinder. Sie hat nachweislich 300 Bewerbungen geschrieben. Sie ist immer noch erwerbslos. Hilfebedürftig? Oder eine 22 jährige junge Frau, in Dresden zur Verwaltungsangestellten ausgebildet, dann nicht übernommen, erwerbslos. In München Arbeit gefunden, sofort umgezogen. Nach drei Monaten war sie wieder erwerbslos. Jetzt bereits zum vierten Mal. Zum Vorstellungsgespräch wurde ihr gesagt: „Sie sind viel zu jung. Wir wissen doch nicht wie Ihre Lebensplanung aussieht. Sie wollen doch sicher Kinder. Wir können Sie nicht nehmen.“ Hilfebedürftig?

Arbeitslosengeld II zwingt die „Hilfebedürftigen“ dazu, jede Arbeit (auch jede Fördermaßnahme und jede Eingliederungsvereinbarung) anzunehmen. Auch nicht-sozialversicherungspflichtige - zum Beispiel gemeinnützige Tätigkeiten für 1,28 € Aufwandsentschädigung pro Stunde - müssen angenommen werden. Tut man dies nicht, wird die Regelleistung im ersten Schritt um 30% gekürzt. In einem zweiten Schritt um weitere 30% plus Wohngeld. Jugendlichen unter 25 Jahren droht bis zu 3 Monate lang völliger Leistungsentzug. Das schafft Arbeitsplätze und kurbelt die Wirtschaft an?

Das Sterbegeld wird auch gestrichen. Für alle, die sich noch etwas Vermögen ansparen konnten, reicht es für die Beerdigung. Was aber ist mit den anderen? Vielleicht brauchen wir bald Armenfriedhöfe. Aber auch das kann wohl positiv sein. Wird es doch hoffentlich ein paar Beschäftigungsplätze für 1,28 € die Stunde schaffen.

Danke!

Dresden, 28. 10. 2003
Diskussionsrunde des ArbeitslosenRates Dresden (A.R.D.)mit Bundestagsabgeordneten zu den „Hartz“-Gesetzen
 

 

 

28.10.2003
www.petra-pau.de

 

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