INTERVIEW DER WOCHE

„Das Grundgesetz ist mein ständiger Begleiter“

22. Mai 2016

Am 23. Mai 1949 wurde des Grundgesetz erlassen. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau findet die „Arbeitsteilung“ absurd, dass der Bundestag zuweilen verbriefte Grundrechte außer Kraft setzt und das Bundesverfassungsgericht sie wieder einsetzt. Im Interview der Woche erinnert sie an etliche Artikel, die ihr wichtig sind, und an zwei Initiativen, die rund um die deutsche Einheit versenkt wurden.

Der 23. Mai gilt als Tag des Grundgesetzes.

Petra Pau
Ja, weil das Grundgesetz 1949, am 23. Mai, erlassen wurde. Was übrigens auch als Geburtsdatum der Bundesrepublik Deutschland (alt) gilt.

Ergo viereinhalb Monate vor der Gründung der DDR?

Richtig, daran muss man junge Leute und vergessliche Alte zuweilen erinnern.

Was für ein Verhältnis haben Sie zum Grundgesetz?

Als linke Innenpolitikerin sind meine Pro-Themen Bürgerrechte und Demokratie und meine Kontra-Themen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Dabei ist das Grundgesetz mein ständiger Begleiter.

Quasi in der Jackentasche?

Zuweilen auch das, aber unser „Teamwork“ beginnt schon mit Artikel 1 Grundgesetz.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Und zwar aller Menschen, nicht nur der Schönen und Reichen, nicht nur der Deutschen und Weißen und nicht nur der Heteros.

War das jetzt ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung AfD?

Auch, aber nehmen wir mal Artikel 16a Grundgesetz.

Das Recht auf Asyl?

Es ist ein Recht, auf das sich alle berufen können, die politisch verfolgt werden. Oder anders gesagt: Wer von „Obergrenzen“ faselt oder aus politischem Kalkül andere Länder einfach mal zu „sicheren Drittstaaten“ erklärt, liegt schnell mit dem Grundgesetz über Kreuz.

Das Bundesverfassungsgericht hat seit der Jahrtausendwende mehr als ein Dutzend Gesetze kassiert, weil die verfassungsfeindlich waren.

Das betrifft insbesondere sogenannte Sicherheits- oder Anti-Terrorgesetze. Der Journalist Heribert Prantl hat dies mal trefflich als eigenartige „Arbeitsteilung“ kritisiert. Der Bundestag setzt verbriefte Grundrechte außer Kraft, das Bundesverfassungsgericht setzt sie wieder ein. Das ist absurd.

Dabei gehe es stets um das Grundrecht auf Sicherheit, argumentieren die Befürworter von CDU/CSU bis SPD. Es gehe um Abwägungen, sagen sie.

Baron Münchhausen könnte es nicht besser formulieren. Es gibt im Grundgesetz kein Grundrecht auf Sicherheit. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Grundrechte sind Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger wider den Staat. Und das als zentrale Lehre aus dem tödlichen Fiasko der Nazi-Diktatur 1933 - 1945.

Und das ist trotzdem politisch umstritten?

Klassisches Beispiel Datenschutz. Die Begehrlichkeiten des Staates auf persönliche Daten sind unerschöpflich. Klar unterstrichen: Datenschutz ist Persönlichkeitsschutz. Deshalb müsste der Datenschutz im Grundgesetz, übrigens auch in der EU, endlich unmissverständlich gestärkt werden.

Liegt ihnen noch ein Paragraph am Herzen?

Etliche, nehmen wir nur mal Artikel 5 (1) Grundgesetz. „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten ...“ Artikel 5 (2) schränkt ein: „Diese Rechte finden ihre Schranken (...) in dem Recht der persönlichen Ehre“.

Bei mir klingelt es gerade: „Böhmermann, Erdogan“.

Aus der Politposse ist längst ein handfester Rechtsstreit geworden. Aber nehmen wir einmal an, die persönliche Ehre von Erdogan wöge mehr als die Meinungsfreiheit von Böhmermann. So bleibt gleichwohl die Frage, warum die Würde des Präsidenten Erdogans nach deutschem Recht würdiger ist, als die der Normalbürger Lehmann, Müller, Schulze.

Sie spielen auf den umstrittenen Paragrafen 103 StGB an.

Ja, er widerspricht nach meiner Auffassung Artikel 1 Grundgesetz. Denn würde Böhmermann nach diesem Majestäts-Paragraphen 103 bestraft werden, dann möglicherweise höher, als nach dem allgemeinen Strafrecht für alle. Die Kanzlerin will den Sonderparagraphen abschaffen. Sagte sie, nachdem sie § 103 StGB im Fall Erdogan kontra Böhmermann aktiviert hatte. Die CDU/CSU wiederum will ihn dennoch beibehalten, weil er angeblich für den Weltfrieden unverzichtbar sei, salopp gesagt.

DIE LINKE will den Majestäts-Paragraphen bedingungslos streichen?

Nicht nur den 103er. Es gibt noch mehr Rechtsvorschriften, die besondere Leute oder besondere Institutionen besonders behandeln, also nicht gleich.

Warum hat die Bundesrepublik Deutschland eigentlich keine vom Volk angenommene Verfassung.

Die viel zitierten Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten genau das vorgesehen. Aber rund um die deutsche Einheit wurde dieses Ansinnen versenkt.

Warum?

Fragen Sie die CDU/CSU und die SPD. Es gab damals zwei bemerkenswerte Anläufe für eine moderne Verfassung im neuen Deutschland. Beide sahen übrigens Volksabstimmungen auch auf Bundesebene vor, was bekanntlich immer noch nicht möglich ist. Obwohl es im Grundgesetz Artikel 20 (2) heißt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (...) ausgeübt.“

Zurück zu den zwei erwähnten Initiativen, bitte.

Damals hatten Bürgerrechtler und Juristen aus West und Ost ein „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“ gebildet und einen Verfassungsentwurf vorgelegt.

Ich vermute umsonst, weil versenkt. Richtig?

Ja, leider! Schon vordem, im Frühjahr 1990, hatte der „Runde Tisch“ eine neue Verfassung für die DDR erarbeitet. Sie war zugleich als Mitgift für ein vereintes Deutschland gedacht.

Klingt nach Anspruch auf gleicher Augenhöhe, also Ost-anmaßend!

Die letzte Volkskammer, also das im März 1990 frei gewählte Parlament der DDR, hat den Entwurf auch nicht mehr behandelt. Die Ost-CDU wollte dies nicht, weil die West-CDU dagegen war. Bei der SPD war es ähnlich.

Und was macht diesen DDR-Verfassungsentwurf, er ist immerhin ein Vierteljahrhundert her, aktuell bemerkenswert?

Ich zitiere daraus einfach mal zwei Artikel. Sie sind brandaktuell, meine ich. Allemal nach den Enthüllungen von Edward Snowden über weltweite Überwachungen durch die NSA und weiterer Geheimdienste sowie angesichts neuer, gefährlicher Bestrebungen die Bundeswehr hochzurüsten.

Also die Zitate, bitte.

Artikel 8: „Jeder hat das Recht an seinen persönlichen Daten und auf Einsicht in ihn betreffende Akten und Dateien. Ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung des Berechtigten dürfen persönliche Daten nicht erhoben, gespeichert, verwendet, verarbeitet oder weitergegeben werden.“
 
Artikel 43: „Die Staatsflagge (...) trägt die Farben schwarz-rot-gold. Das Wappen des Staates ist die Darstellung des Mottos 'Schwerter zu Pflugscharen'.“

Gespräch: Rainer Brandt

linksfraktion.de, 22. Mai 2016

 

 

22.5.2016
www.petra-pau.de

 

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