Das Buch habe ich gelobt und bemängelt

Buchpräsentation „Spontaneität war das Gebot der Stunde - Drei Abgeordnete der ersten und einzig frei gewählten DDR-Volkskammer berichten“
7. Mai 2012
Laudatio von Petra Pau

Manche Ahnungen treffen voll auf die Zwölf. Die Tageszeitung „neues deutschland“ hatte mich gebeten, eine Rezension zu dem Buch „Spontaneität war das Gebot der Stunde - Drei Abgeordnete der ersten und einzig frei gewählten DDR-Volkskammer berichten“ zu schreiben.

In meinem Artikel finden Sie auch diesen Satz: Die Volkskammer vom 18. März 1990 „war ein demokratisch legitimiertes Kapitulations-Parlament. Ich ahne, dieser Satz wird irgendwann gegen mich zitiert werden.“ (Ende des Zitats) Und er wurde es. Der Satz verrate altes SED-Denken, wurde mir vorgehalten.

Seither kenne ich im Bundestag eine oder einen mehr, die oder der das „neue deutschland“ offenbar liest und selbst in einer dicken Beilage zur Leipziger Buchmesse versteckte Artikel wahrnimmt. So viel will ich verraten: Es war kein Wessi, sondern ein Zeitzeuge.

Ich merke das auch deshalb an, weil ich von meinen linken Wessis gern mal belehrt werde, wie das damals im wilden Osten wirklich war. Sie haben es im Buntfernsehen gesehen und sind folglich klüger als alle, die es nur im grauen Alltag erlebt hätten. Kurzum: Auch das linke Leben ist kein Pony-Hof.

Das Buch habe ich gelobt und bemängelt. Im Verhältnis drei zu eins. Dreifach gelobt, weil Nicole Glocke an eine gern vergessene Geschichte erinnert. Weil sie erzählen lässt. Und weil sie mit Rolf Schwanitz, Burkhard Schneeweiß und Dagmar Enkelmann drei unterschiedlich-typische DDR-Biografien beschreibt.

Bemängelt habe ich, dass ich gern noch eine vierte Sicht gelesen hätte. Nämlich die einer bekannten Bürgerrechtlerin oder eines Bürgerrechtlers aus DDR-Zeiten, die oder der schon wieder bürgerrechtlich opponiert. Es gibt sie, schrieb ich, sie heißen nicht Gauck. Aber das ist eine andere Geschichte.

Trotzdem: Googeln sie die Worte „Wir haben es satt“! Sie werden auf einen Appell stoßen, 2001, in der Wochenzeitung „Freitag“. BILD oder die ARD schwiegen damals beredt. Nach langer Stille gibt es auch aktuell wieder Einsprüche von Bürgerrechtlern der DDR gegen die aktuelle Politik.

Ich sprach von einer gern vergessenen Geschichte. 2010 war ich in Israel. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung dort hatte zu einem Symposium zur Wende in der DDR und zur Deutschen Einheit vor 20 Jahren eingeladen. Der Veranstaltungs-Saal war für mich überraschend prall gefüllt.

Zur Wende in der DDR sagte ich aus meiner Erinnerung:
„Es war eine Zeit, in der öffentliche Belange öffentlich ausgehandelt wurden, in der Bewegung in scheinbar unverrückbare Machtverhältnisse kam, in der Journalisten ihre gewonnene Freiheit in den Dienst der Aufklärung stellten, in der die Opposition regierte und die Regierung opponierte, in der die Bürgerschaft hoch interessiert war, in der das Politische, um mit Hannah Arendt zu sprechen, ungeahnte Urständ feierte.“

Es war Krise und Ausbruch zugleich. Die Zeit des Runden Tisches währte übrigens nur drei Monate. Sie endete mit der Volkskammerwahl am 18. März 1990. Aber sie hatte viele elektrisiert. Preisfrage: Wann gab es in der BRD je eine Wahlbeteiligung von 93 Prozent? Früher nicht und später nicht.

Damals galt übrigens ein Wahlrecht, das offener und damit demokratischer war, als das in der alten und in der neuen BRD. Dringend und in vielerlei Hinsicht galt: Mehr Demokratie wagen. Könnte das ein Grund sein, warum die auslaufende DDR anno 1989/90 derweil so gern und häufig vergessen wird?

Nicole Glocke hat mit ihrem Buch „Spontaneität war das Gebot der Stunde“ eine Facette wieder in Erinnerung gebracht. Anders, als es die dominierenden Geschichtsprediger beim ZDF oder in anderen prägenden Medien tun. Sie lässt Vielfalt sprechen und jede Sicht ist interessant.

Noch mal zum alten „SED-Denken“, das mir unterstellt wurde. Es war der SPD-Abgeordnete der sich rückblickend beklagte, dass die Volkskammerwahlen west-dominiert waren. Und es war der CDU-Abgeordnete, der auf westlich-geprägte Parallel-Verhandlungen verwies, an der Volkskammer vorbei.

Noch mal zum alten "SED-Denken", das mir unterstellt wurde. Es war der SPD-Abgeordnete der sich rückblickend beklagte, dass die Volkskammerwahlen west-dominiert waren. Und es war der CDU-Abgeordnete, der auf westlich-geprägte Parallel-Verhandlungen verwies, an der Volkskammer vorbei.

Und wieder stellen sich Fragen der Gegenwart. Werden nicht ganz wesentliche Entscheidungen am Parlament vorbei geklärt? Und hilft der Bundestag nicht längst, einen in Lobby-Zirkeln vereinbarten Demokratie- und Sozialabbau abzunicken? Meine Sicht auf die aktuelle EU-Krise sagt: Ja.

Nun bin ich weit über das Buch von Nicole Glocke hinaus geschossen. Aber es hat in mir nun mal weiter führende Gedanken geweckt. Etwas Besseres kann ich über ein Buch nicht sagen. Die drei Volkskammer-Abgeordneten mögen meine Beobachtungen kontrovers anders sehen. Auch gut. Aber diskutiert sie!
  

 

 

7.5.2012
www.petra-pau.de

 

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