Aktuelle Notiz: Über Abweichler und Dissidenten

von Petra Pau
Berlin, 18.Oktober 2003

1. 

Journalisten haben gezählt. Demnach hat Kanzler Schröder bereits sechs Mal mit Rücktritt gedroht, sofern Rot-Grün ihm keine Mehrheit sichert. Noch gut in Erinnerung ist mir der 16. November 2001. Es ging um den Bundeswehreinsatz in Afghanistan und der Kanzler hatte die Abstimmung mit einer Vertrauensfrage verbunden. Das Votum war verrückt. Es gab SPD-ler und Grüne, die den Kriegseinsatz partout nicht wollten. Sie stimmten dennoch mit Ja, weil sie die rot-grüne Koalition nicht platzen lassen wollten. Die CDU/CSU hingegen war geschlossen für den Militäreinsatz. Gleichwohl votierten sie mit Nein, weil sie natürlich gegen den SPD-Kanzler sein mussten.

2. 

Manchmal werde ich gefragt, warum der Saal bei Plenar-Debatten so leer sei. Dafür gibt es oft einfache Gründe. Nebenbei tagen Ausschüsse und andere Gremien. Das gehört zum Parlaments-Betrieb. Ich habe aber auch erlebt, wie der Saal gefüllt wurde, wie selbst schwer kranke Abgeordnete heran gekarrt wurden, um die Kanzler-Mehrheit zu sichern. Manche waren so kreidebleich, dass sie vor und nach der Abstimmung ärztlich behandelt werden mussten. Und ich habe gesehen, wie gestandene Frauen der Grünen, auch die Berlinerin Eichstädt-Bohlig, im Plenarsaal Freudentänze aufführten, weil die Machtmehrheit zustande kam, obwohl oder weil es um Kriegseinsätze ging.

3. 

Ein Bild hat sich mir eingeprägt. Die PDS war noch Fraktion und vor dem Plenarsaal hatten wir eine angestammte Sitzecke. Dort trafen wir uns zwischendurch, die einen, um etwas zu bereden, andere auf eine schnelle Zigarette. Jede Fraktion hatte so ein Fleckchen. An diesem Tag saß die Abgeordnete Christa Lörcher bei uns, neben uns. Ihre Familie war mitgekommen. Sie war ihr verbliebener Rückhalt, denn die ‚Genossin' galt in der SPD-Fraktion als Aussätzige. Frau Lörcher wollte gegen die rot-grüne Mehrheit stimmen. Das war medien-bekannt. Es ging um den schon genannten Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Sie wehrte sich dagegen, gebrochen zu werden, und sie weinte, wenn die Kameras weg waren.

4. 

Heute war wieder so ein Tag. Es ging um die sogenannten Hartz-Gesetze. Der Kanzler hatte bereits im Vorfeld seine politische Zukunft von der Zustimmung aus den eigenen Reihen abhängig gemacht. Wieder wurde die Sachfrage verdrängt und die Machtfrage hofiert. Die Medien überschlugen sich über „Abweichler“, die opponieren, und über „Zuchtmeistern“, die disziplinieren. „Wer wird gewinnen?“, das war die große Preisfrage. Ich habe in der Plenar-Debatte gesagt: „Sie werden heute zählen, ob es eine Kanzler-Mehrheit gibt. Weitreichender ist die geistig-moralische Wende, die Rot-Grün forciert und in Gesetze fasst: Wer arm dran ist, ist selbst schuld und gehört dafür bestraft.“

5. 

Diesmal wurden bei der SPD sechs "Abweichler" gehandelt, bei Rot-Grün insgesamt acht bis neun. Zuletzt blieb nur einer, der die Gefolgschaft verwehrte: Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen). Er gilt als Ost-Bürgerrechtler. Der West-Bürgerrechtler, Christian Ströbele, stimmte mit Ja, ohne Not, für Sozialabbau. Als es um den ersten Afghanistan-Einsatz ging, votierte Ströbele noch mit Nein. Er durfte es, weil vorher in der Koalition gewürfelt wurde, wer abweichen darf und wer nicht, damit des Kanzlers Mehrheit reicht. Dazwischen gewann Christian Ströbele das erste Direktmandat der Grünen für den Bundestag. Er wurde stellvertretener Fraktionsvorsitzender und ist seither auch nicht mehr grundsätzlich gegen Bundeswehreinsätze in Afghanistan oder anderswo.

6. 

Für meine Bundestagsrede gegen die Hartz-Gesetze hatte ich ganze fünf Minuten Zeit. Andere können sich zehn oder zwanzig Minuten lang ausbreiten, um dafür zu reden. Dennoch wollte ich dem Plenum eine -scheinbar abwegige - Frage nicht ersparen: „Abweichler oder Dissident?“ Wenn Bürgerrechtler zu DDR-Zeiten von der Order abwichen, dann hießen sie „Dissidenten“ und das war aus Westsicht positiv gemeint. Wenn Bürgerrechtler in der BRD opponieren, dann heißen sie „Abweichler“ und das soll negativ klingen.

7. 

Am ‚schlimmsten' sind die, die zu DDR-Zeiten opponierten und zu BRD-Zeiten wieder abweichlern. Keiner weiß, wie viele es sind. Sie kommen in den Medien nicht vor. Andere prominente Bürgerrechtler von einst lassen sich derweil im Schoße der CDU oder SPD dafür aushalten, dass sie die Schlachten von gestern wiederkäuen. Vera Lengsfeld (CDU) ist dafür ein Musterbeleg. Sie geifert, wenn sie darf, und sie eifert, wenn es verordnet wird: für Kriegseinsätze, für Sozialabbau und für Geheimdienste.
 

 

 

18.10.2003
www.petra-pau.de

 

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